Christine Lunde Rasmussen, Helene Bekker

22. Juni 2022

Wir stellen sozialen Mehrwert in der bebauten Umwelt in den Vordergrund

Ähnlich wie das Fundament eines Gebäudes ist auch der soziale Mehrwert für das Auge oft unsichtbar. Wir haben mit zwei Fachleuten mit unterschiedlichen Hintergründen gesprochen, um den sozialen Mehrwert vom Fundament auf die Fassade zu bringen.

Ørestad photoshoot
Das Interview führte Martin Christiansen
Managementberaterin Christine Lunde Rasmussen und Architektin Helene Bekker treffen sich oft. Entweder im luftigen Hauptsitz von Ramboll oder im hellen Studio von Henning Larsen nahe der Innenstadt von Kopenhagen. Beides Beispiele für Büros, die auf Interaktion und sozialen Zusammenhalt ausgelegt sind. Thema ist einmal mehr der soziale Mehrwert in der bebauten Umwelt. Wir haben mit den beiden gesprochen, um zu erfahren, was sozialer Mehrwert ist und was er für die Branche bedeutet.
Zunächst einmal: Was genau ist sozialer Mehrwert?
Helene: „Ich als Architektin verstehe sozialen Mehrwert in der bebauten Umwelt als die Auswirkungen, die die bebaute Umwelt auf alle Bewohner:innen hat, auf vielen unterschiedlichen Ebenen und in sehr unterschiedlicher Weise. Es geht darum, wie die bebaute Umwelt die Lebensqualität für uns alle steigern kann, unabhängig davon, was das für den Einzelnen bedeutet.“
Und wie sieht das konkret aus?
„Zum Beispiel kann die Schaffung öffentlicher Einrichtungen ohne Zugangsbarrieren die Gemeinschaft vor Ort stärken und Einsamkeit bekämpfen – oder die Schaffung grüner und lebendiger Stadträume in unterschiedlichen Vierteln kann Kinder und Erwachsene inspirieren, nach draußen zu gehen und einen aktiveren Lebensstil zu entwickeln, was sich wiederum positiv auf ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden auswirkt und die Gesundheitskosten für die Gesellschaft insgesamt senkt.“
Christine, siehst du das mit deinem sozialwissenschaftlichen Hintergrund genauso, oder wie würdest du sozialen Mehrwert für jemanden definieren, dem das Thema noch neu ist?
Christine: „Nun, ich würde Helene zustimmen, dass sozialer Mehrwert in der bebauten Umwelt der Auswirkung oder auch dem Beitrag einer Stadt, eines Viertels oder eines bestimmten Gebäudes zur Lebensqualität entspricht. Das kann ein sehr breites Spektrum von Aspekten wie Gesundheit, inklusives Wachstum, Beschäftigung, gesellschaftlichen Zusammenhalt und so weiter umfassen – auf der Ebene des Einzelnen und auch der Gemeinschaft. Das bedeutet, dass wir unsere Vorstellung von sozialem Mehrwert auf das konkrete Projekt zuschneiden müssen. Bei unserem Projekt ‚Happy Homes‘ haben wir uns beispielsweise darauf konzentriert, die Faktoren zu ermitteln, die Menschen, die in Reihenhäusern leben, glücklich machen.
Warum ist sozialer Mehrwert ein Schwerpunkt für Architektinnen wie dich, Helene?
Helene: „Ich betrachte es als integralen Bestandteil unserer Arbeit, den sozialen Mehrwert zu bedenken und Lösungen einzubeziehen, die eine positive Wirkung unterstützen, und physische Umgebungen zu gestalten, die das fördern, was wir häufig als ‚gutes Leben‘ bezeichnen.
Man kann sich das so vorstellen: Die bebaute Umwelt steuert unsere Bewegungen und definiert in hohem Maße, wie wir uns fortbewegen oder auch wen wir unterwegs treffen. Die bebaute Umwelt kann die Wahrscheinlichkeit von Interaktionen senken oder auch steigern. Das heißt: Wie wir etwas gestalten, hat viele soziale Auswirkungen – es ist also sehr sinnvoll, dies bei unserer Gestaltungsarbeit zu berücksichtigen. Ohne diesen Schwerpunkt ginge es in unserer Arbeit nur um Ästhetik, Form und Design – und im schlimmsten Fall könnte es zu negativen sozialen Auswirkungen auf den Einzelnen oder auf Gemeinschaften kommen.“
Trotzdem vermute ich, dass das noch nicht bei allen in der Branche gängige Praxis ist...?
Christine: „Nein, aber wir hoffen, darauf Einfluss nehmen zu können. Bislang gibt es keine Kultur zur systematischen Arbeit mit sozialem Mehrwert, weder in Bezug auf die Festlegung der gewünschten Auswirkungen und die Gewährleistung, dass die Gestaltung die gewünschten Auswirkungen hat, noch beim baulichen Wissen, das als Grundlage für künftige Gestaltungen und Umgestaltungen der bebauten Umwelt dienen soll. Bei sozialem Mehrwert geht es ganz grundsätzlich darum, die Veränderung, die wir beim Gestalten, Umgestalten und Bauen erreichen wollen, ausdrücklich zu benennen. In welcher Weise sollen unsere Städte und Gebäude unser Leben formen, und welche Kompromisse könnten dafür notwendig sein? Nur wenn wir darüber völlige Klarheit haben, können wir mit unseren Projekten die bestmögliche Wirkung erzielen.“

Nur wenn Architekt:innen, Entwickler:innen, Bauunternehmen, Geldgeber:innen und Expert:innen für sozialen Mehrwert zusammenarbeiten, können wir wirklich etwas bewegen.

HELENE BEKKER
Leiterin der Abteilung Landschaftsbau

The Potato rows, old housing for working people in Copenhagen, Denmark, August 16, 2019
Nehmen wir an, einiges davon wäre tatsächlich gängige Praxis, Christine. Welche Bereiche würdet ihr und die Teams bei Ramboll betrachten, um den sozialen Mehrwert im Bauprozess zu beurteilen oder zu bewerten?
Christine: „Da sozialer Mehrwert so breit gefächert ist, haben wir ein ganzheitliches Modell mit vier übergreifenden Themen entwickelt, dass wir in diesem Prozess verwenden. Das erste Thema ‚Inklusives Wachstum', umfasst Gesundheit, Beschäftigung, Bildung, Wohnen, etc. Zu ‚Gemeinschaft und Identität' gehören gemeinsame Identität, gesellschaftlicher Zusammenhalt und Diversität. Zum dritten Thema, ‚Resiliente und inklusive Umwelt', zählen Zugang zur Natur, grüne Energie und ein von Inklusion geprägter öffentlicher Raum. Und bei all dem arbeiten wir mit ‚Einbindung und Teilhabe', um zu gewährleisten, dass die Bewohner:innen und Entscheidungsträger:innen mitreden können.“
Wir sprechen über sozialen Mehrwert. Hat ‚sozial‘ einen klassischen monetären Wert, der sich ebenfalls beurteilen lässt?
Christine: „Absolut. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, um sozialen Mehrwert zu beurteilen. Einige sind qualitativer Natur und basieren auf Beurteilungen, beispielsweise von Bewohner:innen oder Interessengruppen. Wir können aber auch mit monetären Werten arbeiten. Wir haben verschiedene Hilfsmittel, die genau dafür da sind: Zum Beispiel eine Bewertung des sozialen Mehrwerts oder eine Analyse der sozialen Auswirkungen, die wir verwenden, um den gesellschaftlichen Mehrwert über einen bestimmten Zeitraum monetär einzuschätzen. Dies sind Methoden, die im Sozialbereich gut etabliert sind und die sich gut auf die bebaute Umwelt übertragen lassen. Ich glaube, dass dies in Zukunft noch deutlich häufiger praktiziert werden wird.“
Apropos Zukunft: Welche konkreten Schritte sollte die Branche zuerst unternehmen, um beim Thema sozialer Mehrwert in der bebauten Umwelt in den nächsten Jahren voranzukommen?
Helene: „Im ersten Schritt müssen wir sektorübergreifend zusammenarbeiten. Nur wenn Architekt:innen, Entwickler:innen, Bauunternehmen, Geldgeber:innen und Expert:innen für sozialen Mehrwert zusammenarbeiten, können wir wirklich etwas bewegen. Außerdem müssen wir aufgeschlossen sein, die Bereitschaft mitbringen, neue Methoden auszuprobieren und neue Wege zu gehen sowie in dieses noch recht neue Gebiet zu investieren. Schließlich müssen wir auch unsere Erfahrungen austauschen und über unsere Erfolge und Misserfolge sprechen, damit wir für die Zukunft lernen können.“
Wie können wir das Bewusstsein für sozialen Mehrwert als einen wichtigen Schwerpunktbereich für Architekt:innen, Entwickler:innen und andere Akteur:innen im Bauwesen schärfen?
Christine: „Ich glaube, wir müssen nicht nur das Bewusstsein schärfen, sondern eine Kultur schaffen, in der sozialer Mehrwert bei jedem Projekt im Vordergrund steht. Dazu ist es erforderlich, Kompetenzen und Hilfsmittel zu entwickeln, um sozialen Mehrwert zu definieren und Methoden zu erarbeiten, mit denen wir nachverfolgen und beurteilen können, ob wir auf dem richtigen Weg zu unseren Zielen sind.
Sicher ist das ein langer Weg. Bei Ramboll haben wir eine sektorübergreifende Zusammenarbeit zwischen Architekt:innen, Ingenieur:innen, Wasser- und Energieberater:innen und unseren Expert:innen für die Beurteilung von sozialem Mehrwert und Transformation aufgebaut. Das ist ein riesiges Potenzial, und die bisherige positive Erfahrung macht Lust auf mehr.“

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  • Christine Lunde Rasmussen

    Senior Market Manager

    +45 51 61 68 57

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