Anna Pekala, Erik Nikolai Udbye und Eva Ravn Nielsen

4. Januar 2024

Die Hierarchie des grünen Wasserstoffs

Grüner Wasserstoff wird häufig als Allheilmittel für die Dekarbonisierung im Energie- und Verkehrssektor betrachtet. Doch wer gezielt weiß, wo und wie diese Technologie sinnvoll eingesetzt werden kann, erschließt Skalierungs- und Kostenvorteile – und schafft die Grundlage für tragfähige Investitionen.

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In diesem Artikel beleuchten wir praxisnahe und umsetzbare Anwendungen von Wasserstoff – mit besonderem Fokus auf grünen bzw. emissionsarmen Wasserstoff sowie wasserstoffbasierte Derivate, die sogenannten E-Fuels. Wir empfehlen, den Einsatz dort zu priorisieren, wo bereits eine konkrete Nachfrage besteht – etwa im Schwerlastverkehr, in der Düngemittelproduktion und in schwer elektrifizierbaren Industriesektoren. In diesen Bereichen fehlen bislang praktikable Alternativen zu Wasserstoff und E-Fuels.

Für eine flächendeckende Nutzung von grünem Wasserstoff ist der Ausbau erneuerbarer Energien unerlässlich. Nur so lässt sich ausreichend bezahlbare grüne Energie bereitstellen – sowohl für die Produktion von Wasserstoff und E-Fuels als auch für die direkte Elektrifizierung, ohne diese auszubremsen. Auch wenn sich die Rahmenbedingungen durch eine breitere Verfügbarkeit von Ökostrom oder durch Kapazitätsengpässe künftig verändern können, sollte die Auswahl geeigneter Wasserstoffanwendungen heute vor allem auf Machbarkeit und strategischem Nutzen für die Dekarbonisierung basieren. Im Zentrum steht die Frage: Welche Lösung passt zu welchem Anwendungsfall? Das kann – je nach Bedarf – eine effizientere Energienutzung, die direkte Stromanwendung, der Einsatz von Biokraftstoffen oder der gezielte Einsatz von grünem Wasserstoff und E-Fuels sein.

Welchen Platz nimmt Wasserstoff in der Hierarchie der Dekarbonisierung ein?

Wasserstoff gilt heute als entscheidender Faktor für eine emissionsarme Zukunft. Sein Potenzial, von der Energiespeicherung bis hin zum Kraftstoff, ist allgemein anerkannt. Allerdings gilt das nicht in gleichem Maße für alle Anwendungen – einige haben durchaus mehr Potenzial für eine großflächige Einführung von Wasserstoff.

Unter Branchenexpert:innen wird derzeit diskutiert, inwieweit Wasserstoff in unseren Energiesystemen eine Rolle spielen wird und welche Anwendungsfälle machbar und wirtschaftlich sinnvoll sind. Auch wenn die Zukunft des Wasserstoffs vielversprechend erscheint, bleibt der Diskurs differenziert, da es einigen Anwendungen an einer ganzheitlichen Begründung mangeln könnte. Da Ressourcen wie erneuerbare Energien, biogenes CO2 usw. begrenzt sind und auch Faktoren wie Infrastruktur, Verteilung und Speicherung berücksichtigt werden müssen, braucht es unbedingt einen realistischen Ansatz, um zu bestimmen, welche Wasserstoffanwendungen wirklich zur Erreichung der Dekarbonisierungsziele beitragen können und gleichzeitig einen wirtschaftlich tragfähigen Business Case bieten.

Bei der Bewertung von Energiesystemen nutzt Ramboll einen hierarchischen Ansatz, um die effektivsten und praktikabelsten Lösungen für eine erfolgreiche Dekarbonisierung methodisch einzuordnen. Dabei gelten folgende Prioritäten:

  1. Senkung des Gesamtenergiebedarfs durch konsequente Beseitigung energieintensiver Aktivitäten, die vermieden oder begrenzt werden können
  2. Optimierung (Verbesserung von Energieeffizienz und bestehenden Systemen)
  3. Elektrifizierung
  4. Grüne Kraftstoffe (einschließlich Wasserstoff, E-Fuels und Biokraftstoffe)
  5. Weitere Maßnahmen wie CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS) oder andere Technologien zur Entfernung von CO2

Für Sektoren und Branchen wie Wohnraumbeheizung, urbane Mobilität und Ausgleich von Stromnetzen stellen Optimierung und Elektrifizierung praktikable Strategien dar. Wenn es allerdings darum geht, zu bestimmen, wo Elektrifizierung sinnvoll und möglich ist und wo grüne Kraftstoffe eine bessere Wahl darstellen, wird die Diskussion differenzierter. Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Arten von grünen Kraftstoffen (Biokraftstoffe und E-Fuels) in Betracht gezogen werden sollen. Hier ist es zunächst einmal wichtig, die optimalen Anwendungsfälle für Wasserstoff zu benennen.

Optimale Anwendungsfälle

Um die Nutzung verfügbarer Ressourcen zu optimieren und vom technologischen Fortschritt zu profitieren, empfiehlt Ramboll die Anwendung direkter Power-to-X-Initiativen auf Sektoren mit bestehendem Wasserstoffbedarf – insbesondere solche, in denen eine vollständige Dekarbonisierung durch Elektrifizierung allein schwierig oder unmöglich ist. Diese Anwendungen umfassen folgende Themen:

  1. Wasserstoff wird aufgrund seiner chemischen Eigenschaften direkt verwendet, zum Beispiel als Reduktionsmittel, als Rohstoff in der Stahlherstellung, als Düngemittel, in Raffinerien und in Chemikalien.
  2. Wasserstoff oder seine Derivate werden aufgrund ihrer Energiedichte oder Portabilität verwendet, zum Beispiel in Verkehrsanwendungen und zur Energiespeicherung.

Unter Berücksichtigung dieser Kategorien skizzieren wir nachfolgend die Sektoren und Anwendungsfälle, die aus unserer Sicht in naher Zukunft an Dynamik gewinnen werden:

Table displaying the hierarchy of green hydrogen
Abbildung 1: Relative Attraktivität neuer Anwendungsfälle für Wasserstoff 

Wie oben ersichtlich, sind emissionsarme Wasserstoff- und E-Fuel-Anwendungen vor allem in der Düngemittel-, Chemie-, Schifffahrts- und Stahlindustrie auf dem Vormarsch. Diese Sektoren sind derzeit entweder auf Wasserstoff angewiesen oder benötigen einen energiedichten, flüssigen Energieträger wie Methanol, Ammoniak oder Kerosin, wie es in der Schifffahrt und der Luftfahrt der Fall ist. Was die Nachfrage betrifft, so entfielen 99 % des weltweiten Wasserstoffbedarfs von 95 Mio. Tonnen im Jahr 2022 auf den Raffinerie- und Industriesektor.1 Leider leistete diese Nachfrage auch einen erheblichen Beitrag zu den Treibhausgasemissionen (ca. 2,5 % der weltweiten Emissionen), da überwiegend klimaschädliche Produktionsverfahren zum Einsatz kamen.

Alternativen zu grünem Wasserstoff und E-Fuels für diese Anwendungsfälle können Biokraftstoffe sein, auch in Form von Methanol und Kerosin, die aus Biomasse und Abfällen hergestellt werden und auf anderen Rohstoffen und chemischen Verfahren beruhen als die E-Fuels aus der Wasserelektrolyse.

Weniger vorteilhafte Anwendungsfälle

Als weniger vorteilhaft gelten Anwendungsfälle wie Wohnraumbeheizung und urbane Mobilität, in denen die Dekarbonisierung viel besser durch direkte Elektrifizierung erreicht werden kann. Für die Beheizung von Gebäuden würden Wärmepumpen etwa fünf- bis sechsmal weniger erneuerbaren Strom benötigen als wasserstoffbefeuerte Heizkessel.2 Die Elektrifizierung könnte die am weitesten verbreitete Alternative für die Wohnraumbeheizung werden, wenn auch nicht die einzige. Niedertemperatur-Abwärme aus industriellen Prozessen oder beispielsweise aus Rechenzentren kann in Fernwärmenetzen genutzt werden.

Im Individualverkehr haben Elektrofahrzeuge diese Debatte bereits für sich entschieden, da sie erschwinglicher und weniger komplex sind als Wasserstoff- oder Brennstoffzellenfahrzeuge. Elektrofahrzeuge sind in der Regel günstiger in der Herstellung und im Betrieb, weil die Batterien immer weniger kosten und ihre Verfügbarkeit besser wird. Und auch technisch gesehen sind sie weniger komplex, da sie nicht so viele Spezialkomponenten benötigen wie Fahrzeuge mit Brennstoffzellenantrieb. Hinzu kommt, dass die Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge weiter ausgebaut wird und besser zugänglich ist, was die Elektrifizierung weiter begünstigt. Die Effizienz der Umwandlung von elektrischer Energie in Bewegung ist bei Elektrofahrzeugen ebenfalls höher als bei Brennstoffzellenautos mit ihrem mehrstufigen Prozess zur Umwandlung von Wasserstoff in Elektrizität. All diese Faktoren haben dazu geführt, dass Elektrofahrzeuge heute die bevorzugte Mobilitätslösung im Individualverkehr darstellen, während Wasserstoff in diesem Sektor zunehmend an Bedeutung verliert. Ein ähnlicher Ansatz ermöglicht auch die Bewertung anderer Technologien, die sich sowohl für Wasserstoff als auch für Elektrifizierung eignen. Zu den wichtigsten Aspekten zählt die Bewertung der Effizienz, der Komplexität und der bestehenden Infrastruktur.

Der Anwendungsfall dazwischen

Bei Anwendungsfällen, die irgendwo dazwischen liegen, sind die Dinge weniger offensichtlich. In diese Kategorie fallen zum Beispiel Anwendungen im Bereich der Hochtemperaturwärme für industrielle Prozesse, im Fernverkehr und in der Energiespeicherung. Hier sind Faktoren wie Produktionskosten, Geografie, Energiedichte und Infrastruktur zu berücksichtigen.

Eine aktuelle Studie der Energy Transitions Commission, die sich aus Unternehmen und Finanzinstituten zusammensetzt, verdeutlicht die Notwendigkeit jährlicher Investitionen in die Netzinfrastruktur in Höhe von 1,1 Billionen US-Dollar bis 2050, um das globale Netto-Null-Emissionsziel zu erreichen.3

Diese immensen Kosten würden wahrscheinlich noch deutlich steigen, wenn eine vollständige Elektrifizierung angestrebt wird, wann immer dies technisch machbar ist. Daher gilt vorerst weiter: Auch wenn eine vollständige Elektrifizierung theoretisch möglich ist, stellt sie nicht immer die optimale Wahl für jede Anwendung dar. Eine strategische Bewertung der Anwendungen kann Aufschluss darüber geben, ob Wasserstoff im Vergleich zur Entwicklung anderer Technologien die beste verfügbare Lösung ist. Außerdem dürften diese späteren Anwendungen von den Lernraten und Produktionssteigerungen profitieren, die in der Wasserstoff- und Elektrolyseindustrie erwartet werden und die parallel zu den derzeitigen Einsätzen verlaufen werden.4 Obwohl sie heute vielleicht noch nicht realisierbar sind, könnte das schon 2030 oder 2035 der Fall sein, je nachdem, wie schnell die Wasserstoffindustrie voranschreitet.

Branchenperspektiven

In der Branche werden derzeit Debatten über die praktischen Anwendungen von Wasserstoff und E-Fuels geführt und weitreichende Prognosen über den voraussichtlichen Umfang des künftigen Wasserstoffmarkts angestellt. Während Wasserstoff als vielseitiges Instrument zur Dekarbonisierung gilt, ist das Ausmaß seiner praktischen Anwendung unter Branchenexpert:innen nach wie vor umstritten.

Michael Liebreich, der das Konzept der „saubereren Wasserstoffleiter“ populär gemacht hat und Wasserstoff mit einem vielseitigen Schweizer Taschenmesser für Energielösungen vergleicht, tendiert eher zur Elektrifizierung und stellt einige spekulative Wasserstoffanwendungen stark in Frage. Er betont, dass Vielseitigkeit nicht immer gleichbedeutend ist mit Effizienz und Kosteneffizienz. Dies veranschaulicht er am Beispiel des Schweizer Taschenmessers, das nicht immer die beste Wahl darstellt, vor allem wenn spezialisierte Werkzeuge praktischer, sicherer oder billiger sind. In seinem Wasserstoffleiter-Diagramm bewertet Liebreich die Rentabilität von Wasserstoff in den beabsichtigten Anwendungen, wobei er nicht nur die Konkurrenz durch Elektrifizierung, sondern auch durch Biokraftstoffe hervorhebt.

Umgekehrt kommt es oft vor, dass Unternehmen, die stark in Wasserstofftechnologien investieren, die potenziellen Anwendungen und Vorteile überbewerten, um die Markteinführung zu beschleunigen. Diese unterschiedlichen Sichtweisen können die Meinungsbildung beeinflussen, was eine neutrale, evidenzbasierte Bewertung der Rolle von Wasserstoff komplizierter macht. Darüber hinaus können etablierte Energieunternehmen versuchen, den Diskurs so zu verändern, dass er ihren spezifischen Interessen entspricht, beispielsweise in Bezug auf Infrastrukturanlagen oder Geschäftsmodelle. Damit stellen sie jedoch unter Umständen ihre eigene Agenda über umfassendere gesellschaftliche und klimapolitische Ziele, was den Bewertungsprozess weiter erschwert.

Es muss kein Wettstreit sein

Unter Berücksichtigung beider Sichtweisen unterstreicht Ramboll die Notwendigkeit, die Rolle von Wasserstoff in einem breiteren, dekarbonisierten Energiekontext zu bewerten und den Diskurs nicht als Wettstreit zwischen Wasserstoff und Elektrifizierung zu führen. Stattdessen betrachten wir Wasserstoff und Power-to-X als Ergänzung zur Elektrifizierung – und als logischen nächsten Schritt in einer Hierarchie, in der die Integration von Wasserstoff und Elektrizität eine wichtige Rolle für das Erreichen von Dekarbonisierungszielen spielt. Sowohl Wasserstoff als auch die Elektrifizierung sind angesichts der aktuellen und künftigen Energienachfrage von Bedeutung. Und ein vorsichtig optimistischer Ansatz ist ein guter Weg, um in diesem Bereich voranzukommen.

„Wasserstoff ist kein Allheilmittel, mit dem sich alle künftigen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Erderwärmung und einer ausreichenden Verringerung der CO2-Emissionen lösen lassen. Die direkte Elektrifizierung wird eine zentrale Lösung für die Dekarbonisierung sein, während in schwer zu elektrifizierenden Sektoren ab 2030 grüner Wasserstoff und E-Fuels die Hauptrolle spielen dürften.“ 

Eva Ravn Nielsen
Senior Chief Advisor, Wasserstoff und Power-to-X 

„Wir möchten Sie dabei unterstützen, Power-to-X zu einer nachhaltigen Lösung zu machen – nicht nur in ökologischer, sondern auch in finanzieller und sozialer Hinsicht.“ 

Anders Nimgaard Schultz
Director, Power-to-X 

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